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Lob des Jammerns oder: Warum es sinnvoll ist, über Gefühle zu sprechen.

Wir alle tun es, wir jammern, granteln, ächzen, ätzen, pöbeln, schimpfen, und doch hat dieser Teil des menschlichen Sozialverhaltens einen derart schlechten Ruf. ‚Vom Jammern ist noch nichts besser geworden‘, heißt es da etwa oder prominent, Albert Einstein zugeschrieben: ‚Es gibt viele Wege zum Glück, einer davon ist, aufhören zu jammern.‘
Ich möchte heute im Rahmen dieses Blogs eine Lanze für das Jammern brechen. Ich glaube, Jammern, auch wenn es manchmal nicht schön anzuhören ist, leistet doch einen wesentliche Beitrag zu unserem psychischen Gleichgewicht.

Ich werde dazu zunächst anhand des Konzepts der ‚Emotionsregulation durch Mentalisierung‘ erläutern, warum es überhaupt sinnvoll ist, über Gefühle zu sprechen um daraus den ein oder anderen Schluss zu ziehen, wie man mit dieser speziellen Form der Mentalisierung, dem Jammern, umgehen kann.

Mentalisieren und die Regulation von Gefühlen
Mentalisieren, das bedeutet letztlich nichts anderes als das in Worte Fassen eigener oder fremder Gedanken, Gefühle, Phantasien etc. Es bedeutet also, aktiv darüber nachzudenken oder darüber zu sprechen, was ich oder ein anderer fühlt, denkt, phantasiert. Die Forschergruppe rund um den englischen Psychoanalytiker und Psychologen Peter Fonagy hat herausgefunden, dass psychische Gesundheit in hohem Maße mit der Fähigkeit korreliert, zu mentalisieren, also die eigene und fremde Innenwelt explizit zu verstehen und verbalisieren zu können.

Sie erklären das damit, dass die Fähigkeit, Gefühle zu regulieren damit zusammenhängt, diese zu benennen, ihnen gewissermaßen einen Ort in uns zu geben. Anhand von Beobachtungen von Säuglingen haben sie folgende These aufgestellt: Bis zu einem gewissen Alter haben Babys noch kein Bewusstsein ihrer eigenen Emotionen. Sie erleben eher etwas wie einen diffusen Spannungszustand der sich über das typische Babyschreien einen Ausdruck sucht. Babys haben noch nicht die Fähigkeit, diese Spannungszustände selbst zu regulieren. Sie benötigen dazu eine Bezugsperson, oft eben die Mutter oder den Vater. Zentral ist hier der Begriff der Affektspiegelung: Das Baby weiß nicht wie es ihm geht, es weiß nur, dass der Zustand unerträglich ist. Es sucht Kontakt zur Bezugsperson. Diese wird im Idealfall das Gefühl des Babys verstehen und über den Gesichtsausdruck, verbales Trösten (oder natürlich auch Versorgungsleistungen) das Kind beruhigen. Die These von Fonagy ist nun die, dass das Kind das eigene Gefühl in dem Verhalten der Bezugsperson erst erkennt. Im Gesicht der Mutter erkennt das Baby also sein eigenens Gefühl. Durch dieses Wiedererkennen des eigenen Gefühls erst gelingt es dem Säugling, quasi ein Bild zu dem (diffusen) Gefühl zu entwickeln, welches dann kognitiv verarbeitet werden kann.

So kann man sagen, das Kind bekommt erst über die Wiederspiegelung seines Gefühls durch die Bezugsperson ein Bewusstsein darüber, wie es ihm eigentlich geht. Wenn man die These weiterspinnt kann man sagen: Erst durch den Kontakt mit anderen Menschen, lernen wir, wie es uns eigentlich geht. Davor haben wir es einfach mit diffuser Spannung zu tun.

Abgestimmte Bezugspersonen
Die ausreichend gut abgestimmt Bezugsperson wird das Gefühl richtig spiegeln – und, das ist zentral, leicht verändern: unter Anführungszeichen setzen. Man denke etwa an folgende Situation: Ein Kind tut sich weh, der Vater kommt, macht zunächst selbst ein schmerzverzerrtes Gesicht oder lautliche Äußerungen (Spiegelung des Affekts) im nächsten Schritt wird er sich aber bemühen, irgendwie Distanz zum Schmerz zu bekommen, er lächelt, umarmt das Kind, ist zuversichtlich, dass der Schmerz vergeht oder parodiert seine eigene emotionale Reaktion. (Unter Anführungszeichen setzen)
Tendenziell gibt es hier drei Richtungen inwiefern etwas schiefgehen kann: (a) Die Bezugsperson wird selbst vom Affekt überflutet, ist also überfordert, verzweifelt, gerät in Panik, (b) die Bezugsperson verkennt den Affekt grob, versteht also das Kind nicht, oder (c) sie ist überhaupt nicht in der Lage, gefühlsbetont auf das Kind zu reagieren, sondern reagiert bloß mechanisch.
Wenn es sich dabei um eine wichtige Bezugsperson handelt, ist die Chance hoch, dass das Kind einen ‚falschen‘ Affektausdruck einspeichert, missversteht sich also ebenso, wie es von seinen Eltern missverstanden wird. Daraus können verschiedene pathologische Zustände entstehen. Das kann hier allerdings nicht weiter erläutert werden.
Wichtig ist daran vor allem das Folgende: Von Anbeginn unserer Entwicklung sind wir darauf angewiesen uns auszudrücken, und verstanden zu werden um uns selbst zu verstehen und damit: um uns selbst zu beruhigen. Natürlich kann diese Fähigkeit bis zu einem gewissen Grad verinnerlicht werden, wir können unsere Gefühle für uns selbst symbolisieren, verstehbar machen und damit verarbeiten, wenn wir in der Kindheit ausreichend gut gespiegelt wurden. Gerade in neuen Situationen aber, bei der Konfrontation mit für uns neuen oder überraschend heftigen Gefühlen oder Spannungszuständen sind wir darauf angewiesen, gespiegelt zu werden, unter Anführungszeichen gesetzt zu werden, um unseren neuen Zustand neu zu verstehen und zu verarbeiten. Bei aller Fähigkeit zur Selbstberuhigung: Das effektivste Mittel sich zu beruhigen ist oft das verständnisvolle Gespräch mit einem vertrauten Menschen.

Lob des Jammerns
Nun aber zurück zum eigentlichen Thema, dem Jammern. Ich denke es ist bereits klar geworden worauf ich hinaus will: Jammern ist eine spezielle Form des Mentalisierens. Im Jammern verbalisieren, symbolisieren wir unsere affektiven Spannungszustände und machen sie damit verarbeitbar!
Manchmal mag es darum gehen, Lösungen für ein Problem zu finden. Oft geht es aber einfach nur darum, den eigenen Frust auszudrücken um sich innerlich wieder zu stabilisieren.
Jene die sich dieses Gejammere anhören, leisten dem Jammerer eine entscheidenden Dienst. Ich denke dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir wieder mal angejammert werden: Wir helfen dem Jammerer dabei sich zu stabilisieren, in dem wir seinen Affekt spiegeln, und verständnisvoll auf ihn eingehen.
Aus dem obigen ergeben sich zudem 3 mögliche Sackgassen: (a) wir steigen mit ein ins Jammern, sehen selbst plötzlich auch die Welt nur mehr grau (vergessen also das ‚unter-Anführungszeichen-setzen‘), (b) wir missverstehen die Emotion des Jammerers, nehmen ihn etwa so wahr, als würde er uns Vorwürfe machen, verstehen also beispielsweise seinen Frust als Aggression oder (c) wir gehen überhaupt nicht auf seine emotionale Situation ein, sondern überhäufen ihn mit Lösungsvorschlägen. Die Gefahr ist also, wenn man angejammert wird, die Intention zu verkennen und so selbst zu verzweifeln (a), sich auf der Anklagebank wiederzufinden (b) oder sich völlig machtlos zu fühlen (c). Dabei ist Spiegeln und ‚unter-Anführungszeichen-setzen‘ oft völlig ausreichend!

Und auch wenn wir wieder mal selbst Jammern plädiere ich dafür: Wir tun da nichts sinnloses, sondern ich leiste wenn ich jammere einen ganz entscheidenden Beitrag zu meiner eigenen Psychohygiene!

Mag. Sebastian Brandl
Psychotherapeut

Weiterführende Literatur:
Fonagy/Gergely/Jurist/Target: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett Kotta, Stuttgart 2004

Kirsch/Brokmann/Taubner: Praxis des Mentalisierens, Klett Kotta, Stuttgart 2016