Kürzlich hat Katharina Hinsch, eine systemische Psychotherapeutin und Sexualtherapeutin aus Wien, einen interessanten Artikel veröffentlicht. Sie stellt darin ihr Modell von verschiedenen Facetten der Sexualität vor und wie sie in der therapeutischen Praxis damit arbeitet.
Dieser Artikel nehme ich zum Anlass, mich in unserem Blog zu Wort zu melden. Bei unserem Kamingespräch mit Roberta Rio konnte ich sehen, dass es anscheinend reges Interesse am Thema Sexualität gibt. Das Modell der Facetten eignet sich gut zu Selbstreflexion und die Arbeit damit ist darüber hinaus auch Beispiel dafür, wie ressourcenorientierte Paar- bzw. Psychotherapie aussehen kann. Viele Menschen haben ein bestimmtes Bild von Psychotherapie im Kopf, dass zumindest nicht meiner Praxis entspricht und so möchte ich diesen Blog auch dazu nützen, etwas über einen Aspekt meines Zugangs, eben den Aspekt der Ressourcenorientierung, zu Psychotherapie zu sagen.
Zunächst werde ich also das Modell der Facetten der Sexualität von Katharina Hinsch beschreiben um in einem zweiten Teil in aller Kürze die therapeutischen Haltung der Ressourcenorientierung etwas näher zu erläutern.
Facetten der Sexualität
Katharina Hinsch hat das Modell zunächst für ihren Unterricht als grobes Raster für sexuelle Motive entwickelt. Schnell wurde ihr aber deutlich, dass es sich in hohem Maße für die therapeutische Arbeit eignet. Paare kamen oft mit sexuellen Problemen zu ihr und es hat sich gezeigt, dass sich die Facetten dazu eignen, opak scheinende Probleme aufzudröseln und den Paaren ein neues Sprechen über ihre Bedürfnisse und Wünsche zu ermöglichen. Es ist gerade oft auch bei sexuellen Themen schwierig, miteinander zu sprechen ohne unerwünschte Gefühle wie Scham, Schuld, Vorwürfe oder ähnliches zu entwickeln. Die Facetten helfen hier dabei zu sehen, dass es viele unterschiedliche Motive für Sexualität gibt, die alle ihre Berechtigung haben. Paaren fällt es oft anhand eines Modelles leichter über ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu sprechen wenn von vornherein eine Atmosphäre geschaffen wird, in der klar ist, dass jedes Bedürfnis auch sein darf.
Bevor ich zu den Facetten im Detail komme möchte ich noch darauf hinweisen, dass es dabei nicht darum geht, trennscharfe Kategorien zu entwickeln, sondern darum, Begriffe anzubieten, die aufgegriffen werden können, um es leichter zu machen, frei über seine eigene Sexualität nachzudenken und zu erzählen. Jede Facette betont „einen Aspekt eines sexuellen Wunsches oder einer Sexuellen Handlung“ (Hinsch; S.184) – was aber natürlich auch nicht heißt, dass es nur diesen Aspekt gibt, sondern vermutlich wird jede sexuelle Handlung oder Wunsch durch verschiedene Facetten mit motiviert.
Die Beziehungsfacette
Sexualität findet oft im Rahmen einer Paarbeziehung statt. In diesem Rahmen hat Sexualität oft einen beziehungsgestaltenden Aspekt. Es wird etwa häufig beschrieben, dass es einen gewissen Zusammenhang etwa zwischen Dauer der Paarbeziehung und Ausmaß der Sexualität gibt (z.B. nach einer Gewissen Zeit der Partnerschaft nimmt die Häufigkeit ab) oder die Sexualität wird als Gradmesser für die Güte der Beziehung hergenommen (Katharina Hinsch zitiert hierzu eine Studie, aus der hervorgeht, dass in unseren Breiten dafür 1 – 1,5 mal Sex pro Woche durchschnittlich als ausreichend erlebt wird). Andere Motive, die Katharina Hinsch nennt, die in diese Facette fallen sind „Sex aus Gefälligkeit, aus Gewohnheit, Sex in der Hoffnung auf eine Beziehung, Sex in der Hoffnung auf eine bessere Beziehung, um den anderen stärker an sich zu binden, um beim anderen eigene Versprechungen einzulösen, um Naturrechte geltend zu machen, Verlustangst, Beschwichtigung des Partners bzw. der eigenen Angst, ihn oder sie zu verlieren, Mitmachen zur Erhaltung der Harmonie oder um einem/r depressiven PartnerIn zu helfen sich zu bestätigen usw.“ (Hinsch; S. 187). Wenn für jemanden Sex und Partnerschaft eng verknüpft sind, wird vermutlich diese Beziehungsfacette in seiner Sexualität eine wichtige Rolle spielen.
Die emotionale Facette
Katharina Hinsch beschreibt, dass viele Gesprächspartner diese Facette für die einzig richtig Facette halten, um sexuelles Begehren zu entwickeln. Es geht im Rahmen dieser Facette oft darum, mit Sex Nähe zu erzeugen oder auszudrücken. Hier kann es natürlich auch innerhalb der Facette zu Unstimmigkeiten kommen, der eine möchte seine Wünsche nach Nähe durch Sex erfüllen, der Andere benötigt wiederum zuvor bereits eine Atmosphäre der Nähe, um sexuelle Wünsche zu entwickeln. Andere Beweggründe wie romantische Sehnsüchte, Verschmelzungsphantasien, Liebesbezeugungen, Sex wegen Kinderwunsch, Sex um Geborgenheit und Wärme zu spüren gehören in diese Facette.
Die Bestätigungsfacette
Ein weitere Aspekt, weswegen Menschen ihre Lust aufsuchen ist jener, dass sie dadurch irgendeine Art von Bestätigung erlangen. Dabei kann es darum gehen, sich besonders männlich oder weiblich zu fühlen, sich begehrenswert, fit, attraktiv, potent, schön, liebenswert, jung zu fühlen oder auch sich bestätigen zu lassen, einE guteR LiebhaberIn zu sein. Oft spielt dieser Aspekt zu Beginn einer Beziehung oder Affäre eine besonders wichtige Rolle, aber auch in langjährigen Beziehungen kann es ein wichtiger Beweggrund sein, sich als begehrenswert empfinden zu wollen.
Die Vitalitätsfacette
Hier geht es vor allem um die körperlich empfundene Lust. Das Erleben, dass ‚der Körper‘ es wieder einmal braucht, der Wunsch nach Entladung, zyklusabhängige sexuelle Lust, ‚Geilheit‘, Trieberleben, einfach, sich körperlich lebendig zu fühlen.
Die Abenteuerfacette
Bei dieser Facette wird Lust aufgesucht als Maximierung der Erregen, als ein Spiel mit Grenzen. Es geht um die Suche nach Neuem, nach ‚Thrill‘, nach Abenteuer um Forscherdrang. Diese Facette findet Ausdruck in Rollenspielen, neuen Szenarien, Sexspielzeugen oder auch Affären und wechselnden Sexualpartnern.
Die spirituelle Facette
Darum geht es, wenn Sexualität in Verbindung mit mit Begriffen Transzendenz, Seligkeit, kosmischer Extase oder Ähnlichem geht. Wer von Ihnen beim unserem Kamingespräch von Roberta Rio war, hat davon einiges gehört. In früheren Zeiten war es üblich, Sexualität als lebenserneuernde Kraft zu feiern die auch einen Zugang zu so etwas wie einer Körpergebunden Spiritualität geben kann. Wenn Lust aus diesem Grund aufgesucht wird, spricht Katharina Hinsch von der spirituellen Facette von Sexualität.
Die Idee ist nun die: Wir suchen unsere Lust immer aus irgendwelchen Gründen auf. Die beschriebenen Facetten sind eine Auflistung verschiedener Motive, die Menschen dazu bringt, ihre Lust aufzusuchen. In Partnerschaften kann es zum Problem werden, wenn bei einem Partner die eine Facette überwiegt, beim anderen eine Andere und die beiden Partner womöglich die jeweils eigenen Motive als einzig Richtige verstehen. Beispielsweise ist denkbar, dass die Partnerin sexuelles Begehren als Folge eines Kinderwunsches besonders stark empfindet. Der Mann, bei dem beispielsweise die Vitalitätsfacette (z.B. der Wunsch nach Entladung) überwiegt könnte sich an einem bestimmten Punkt der Beziehung benutzt oder hineingelegt fühlen, wenn nach Erfüllung des Kinderwunsch das sexuelle Verlangen der Frau abnimmt. In der Erlebniswelt der Frau stimmt das aber so nicht, genauso wie sie in Verbindung mit ihrem Kinderwunsch begierig nach Sex ist, ist er in Verbindung mit seinem Wunsch nach Entladung begierig nach Sex.
Jede der Facetten kann einen wertvollen und schönen Zugang zur Sexualität in sich bergen und diese positiven Ressourcen in den eigenen Wünschen zu erkennen und dem Partner auch mitzuteilen und verständlich zumachen, dabei kann ein Paartherapeut hilfreich sein. Gerade Anforderungen des Partners, bestimmte Glaubenssätze o.ä. können den Weg zur eigenen Lust verstellen. Sehen zu lernen, dass die eigenen und die fremden Motive gut und richtig sind und dann Wege zu finden, wie womöglich gerade diese unterschiedlichen Aspekte den Weg zu einer erfüllenden gemeinsamen Sexualität ebnen, genau das wäre ein Beispiel für ressourcenorientierte Paartherapie wie ich sie verstehe.
Ressourcenorientierte Psychotherapie und der Mythos des Sisyphos
Oft kommen KlientInnen mit der Vorstellung in Psychotherapie, es wäre hier der Ort in der Vergangenheit zu bohren, sogenannte ‚Leichen im Keller‘ aufzuspüren, die pathologischen Seiten der eigenen Persönlichkeit zu erkennen, sich damit zu konfrontieren, etwas ‚aufzuarbeiten‘ sodass sich dann die Probleme, die ursprünglich in die Therapie geführt haben, wie von alleine lösen. Auch das kann natürlich der Weg einer Psychotherapie sein. In vielen Fällen geht es aber um etwas anderes.
Es geht oft in erster Linie darum, sich selbst, seine Wünsche, Möglichkeiten und Bedürfnisse besser kennen zu lernen. Wie das obige Beispiel der Facetten gezeigt hat geht es darum zu sehen, die eigenen Wünsche und die Motive für diese gut kennen zu lernen, zu sehen, dass vermutlich jeder Wunsch einen ‚gesunden‘ Kern hat. Genau diese gesunden Kern gilt es aufzuspüren, zu sehen, dass das ungeliebte ‚Symptom‘ oder Problem letztlich Ausdruck eines gesunden Bedürfnisses ist. Es geht gerade nicht darum ‚Pathologien‘ aufzuspüren, sondern zu sehen, dass was als Pathologie bezeichnet wird, Ausdruck einer (womöglich nicht ganz optimalen) Lösung ist, die es vielleicht zu optimieren gilt.
Ein schönes Beispiel für eine solche Ressourcenorientierte Sichtweise liefert der Philosoph Albert Camus in seiner Interpretation des ‚Mythos des Sisyphos‘. Der antike Held Sisyphos, wird von den Göttern in der Unterwelt dazu verurteilt, einen Felsbrocken immer wieder auf den Gipfel eines Berges zu rollen. In dem Moment indem der Felsen am Gipfel ankommt, rollt dieser wieder hinunter und Sisyphos muss von Vorne beginnen. So bis in alle Ewigkeit. Das mag auf den ersten Blick frustrieren. Camus aber beschreibt die Lage dieses tragischen Helden so:
„Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“(Camus, S. 160)
Was auf dem ersten Blick nur wie ein fader Felsbrock wirkt (das Problem), erkennt Sisyphos in seinen vielen Möglichkeiten. Er registriert jedes Aufblitzen, er erkennt jedes Detail als eine Welt für sich, als Schönheit. Was zuvor opakes Problem war, wird in seiner Vielfältigkeit erkannt.
Im Kampf gegen Gipfel, die das Menschenherz ausfüllen wird auch noch etwas spielerisches angesprochen: Etwas spielerisches im Umgang mit den eigenen Problemen. Wenn der Fels nicht mehr fader Fels ist, sonder eine Welt für sich mit mannigfaltigen Möglichkeiten, unterschiedlichsten Aspekten, Facetten, wird das Rollen auf den Gipfel nicht mehr fader, anstrengender Kampf mit dem Problem sondern jeder kleiner Schritt wird bereichernd, es bereitet Vergnügen, sich mit dem ‚Problem‘ zu befassen, weil es so viele Seiten bietet, die interessant sind, verschiedenste Möglichkeiten in sich bergen und auch schön sein können.
Wenn das Universum keinen Herrn mehr kennt, muss der Stein nicht mehr Strafe sein sondern kann auch Ort der höchsten Erfüllung sein.
Dies sind bewegende Momente in Therapien, wenn die Stimmung umspringt, wenn KlientInnen eine gewisse Freude entwickeln, sich mit ihren Themen auseinanderzusetzen, wenn sie Seiten von sich, die sie zuvor bloß kritisch gesehen haben plötzlich auch in ihren Möglichkeiten wahrnehmen, ihre Wünsche anerkennen und ihnen eine Platz geben, der ihnen als passend erscheint. Den Raum zu schaffen für solche Veränderungen, welches spezielle Thema es auch betrifft, das sehe ich als eine Hauptaufgabe meiner Tätigkeit als ressourcenorientierter Psychotherapeut.
Literatur:
Katharina Hinsch, ‚Das Facettenmodell der Sexualität‘; erschienen in: Systeme – Interdisziplinäre Zeitschrift für systemtheoretisch orientierte Forschung und Praxis in den Humanwissenschaften; Jg. 30, 2/16; S. 167 – 203; ÖAS Eigenverlag, Wien 2016
Albert Camus, ‚Der Mythos des Sisyphos‘; Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003